Eine Gruppe Jungen zu hüten, die auch noch verschieden alt sind, von 9 bis 16 oder 17, ist beileibe kein einfaches Unterfangen. Bei "normalen" Kindern schon eine Herausforderung. Bei uns waren Kinder, die dazu noch sozialgestört und teilweise traumatisiert waren, ihre eigenen Macken und Ticks hatten und jeder von ihnen mit einer Vorgeschichte, die jedem empathiebegabten Menschen das Herz zerreißen würde. Wer glaubt, Kinder in Kinderheimen stammen nur von Sozialhilfeempfängern (Hartz4) ab, irrt gewaltig. Wir hatten Kinder deren Eltern Rechtsanwälte, Trucker, Bergwerksarbeiter, Ärzte, ja sogar ein Psychologieprofessor war dabei, Sexworker, Straßenkehrer, Politiker usw. waren. Die kompletten Sozialschichten rauf und runter. Und trotzdem mussten wir uns zusammenreißen und nicht jedem der Neuen gleich erstmal die Fresse polieren, nur weil er neu war. Nein, in dieser Gruppe ging es eigentlich sehr human zu. Der Ton war rau, meistens jedoch ehrlich. Das sah in anderen Gruppen des Kinderheimes anders aus. Uns wurde als Mitglieder einer Außengruppe ohnehin unterstellt, dass wir meinten wir wären etwas Besonderes. Denn dort sein zu dürfen galt als Privileg. War es auch, aber wir durften das nie zugeben. Sonst gab es Dresche vom Feinsten wenn wir das Gelände des Heimes betraten. Der jüngste Bub, den wir hatten war 5 Jahre alt und wurde uns von seine Mutter vor die Tür gesetzt. Sie fuhr davon und der kleine Bub saß von Gott und der Welt verlassen auf unserer Eingangstreppe. Ich könnte heute noch heulen wenn ich daran denke. Er wuchs in unserer Gruppe auf und hatte es 1000 Mal besser als zu Hause. Wenn ihm auch seine Mama sehr fehlte und er sie lange Zeit nicht besuchen durfte. Wir konnten nicht ahnen, dass er sich 3 Tage, nachdem er mit 17 Jahren entlassen wurde, das Leben nahm. Ja, das Leben ist manchmal so richtig Scheiße. Trotzdem gab es eine Menge Jungs, die nach der Schule eine Lehre machten, Arbeit hatten, eine Familie gründeten und es besser machten als ihre vermeintlichen Vorbilder, ihre Eltern - sofern überhaupt vorhanden.
Natürlich gab es auch viel Zeit der Freude und Lebenslust. Freizeitaktivitäten wie Zelten gehen, Lagerfeuer machen, Reiten, Tennis, Fußball, Baseball, durch die Wälder streifen, rodeln.... es war so viel möglich, neben Schule, Hausaufgaben, Hausarbeiten uuuuuuuunnnnnd in die Kirche gehen müssen. Ich sage bewusst müssen, denn das Heim wurde von katholischen Nonnen geführt und da war es Pflicht 1 Mal die Woche in die Kirche zu gehen. Für mich kein Problem, sollte ich doch später eh im Kloster landen. Dies aber freiwillig. Damals gab es bei den Jungs, die die hl. Messe als reine Zeitverschwendung ansahen, den Spruch:
"Mit der Knarre vor der Fresse, geht ein jeder gern zur Messe..."
Wenn es wieder Eintopf gab, in Heimkreisen "Rumfort" (alles was RUMliegt muss FORT) beteten wir unser Tischgebet:
"Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und siehe was Du uns bescheret hast! Amen"
Das Essen war nahrhaft. Das war es aber auch schon. Später wurde eine Heimkommission, den Heimrat gegründet. Jede Gruppe wählte einen Gruppensprecher der die Gruppe im Rat vertrat. Der Rat wiederum wählte einen Heimratsprecher und wer diesen Posten inne hatte war heilig und Tabu. Dieser hatte mehr Einfluss auf die Jungs als der strengste Erzieher dort. Wenn der sagte: "Spring!" dann wurde höchstens noch gefragt: "Wie oft und wie hoch?" und dann ging es los. Meistens war er jedoch Streitschlichter, aber auch Richter. Somit teilweise effektiver als so manche Erziehungsansatz diverser Erzieherpraktikanten und Hospitanten, sowie andere Sozialpädagogen.... Nach der Gründung des Heimrates wurde allmählich übrigens auch das Essen wesentlich besser und hatte sogar Geschmack.
Eines noch zum Schluss dieser Episode: Ein Erzieher, eine Erzieherin -und sei sie/er noch so nett und einfühlsam- wird niemals Papa oder Mama für ein Kind sein können oder dürfen. Doch dieses Thema ist für den nächsten Beitrag gedacht.
In diesem Sinne
Freric
Kommentare sind erwünscht. Ausdrücklich. Und Fragen sind immer willkommen.
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